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Demenz: Der Lebensrucksack schließt nicht mehr

Von Diny Juds und Sylvia Gutowski

Um das Krankheitsbild der Demenz zu erklären, wird häufig die Metapher des umgefallenen Bücherregals verwendet. Doch bei näherer Betrachtung greift dieses Bild zu kurz. Viel treffender ist die Vorstellung einer Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung.

Kürzlich kam es nach einer Fortbildungsveranstaltung zu einer eindrucksvollen Begegnung. Eine 21-jährige Mitarbeiterin brach plötzlich in Tränen aus, als im Gespräch ein aktueller Film zum Thema Demenz thematisiert wurde. Stockend berichtete sie von ihrem Vater, der mit gerade einmal 61 Jahren an Demenz erkrankt war. Beim täglichen Heimkommen erwarte sie ihre Mutter stets mit neuen Hiobs­botschaften. Der Vater sei uneinsichtig gewesen, weil er kein Auto mehr fahren dürfe, habe die falschen Dinge eingekauft, Geld ausgegeben für Dinge, die niemand bräuchte, oder habe aggressiv auf die Verständnislosigkeit der anderen Familienmitglieder reagiert.

Nette Filme mit bekannten Schauspielern seien nicht geeignet zu verdeutlichen, was Demenz für die Betroffenen bedeute, sagte die junge Frau. Die Realität sei zu grausam, um sie mit in einem Regal umgefallener Bücher zu vergleichen, wie in diesem Film geschehen.

Im Gespräch wurde Handlungsbedarf deutlich, denn auch in der pflegerischen Ausbildung oder in Fortbildungen zum Thema Demenz wird gerne auf die etwas abgedroschene Metapher des umgefallenen Bücherregals zurückgegriffen. In gemeinsamen Überlegungen suchten wir nach einer neuen Darstellung der Demenzerkrankung. Es entstand das Bild der „Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung“.

Der Rucksack füllt sich

Dieser Ausdruck mag zunächst etwas ungewöhnlich klingen. Bei näherer Betrachtung erschließt sich die Sinnhaftigkeit jedoch schnell: Jeder Mensch kommt mit einem kleinen, fast leeren Lebensrucksack auf die Welt. Dieser ist imaginär. Er füllt sich zunehmend mit Lebensgeschichte, die eine Person individualisiert. Der Rucksack ist Teil eines jeden Menschen, er begleitet ihn von der Schwangerschaft bis zum Tod. Bei der Geburt wird der Lebensrucksack geschultert. Im Verlauf des gesamten Lebens wächst der Lebensrucksack mit. Je älter ein Mensch wird, desto voller und größer wird er.

Im Lebensrucksack ist die Biografie des Trägers zu finden, die innere Landkarte einer Persönlichkeit. Am Anfang füllt sich der Rucksack mit prägenden Erlebnissen, die nie verloren gehen. Erinnerungen an Sprache, Gerüche, Musik, Normen, Regeln und Rituale gehören auch dazu. Dies sind die ersten und wichtigen Päckchen, die ganz unten im Rucksack ihren Platz finden. Sie bilden das Fundament.

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Rucksäcke haben meist einen Reißverschluss, der sich nicht ganz bis unten öffnen lässt. Meist bleibt so ein erhöhter Rand, der verhindert, dass alles gänzlich herausfällt. Bis zu diesem Rand reichen die Schätze
der Kindheit und Jugend.

Dann wird im Laufe des Lebens fleißig gestapelt oder lose gefüllt. Erinnerungen, Erlebtes, Erlerntes, Erfahrungen, Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen und Kompetenzen kommen immer mehr hinzu. Der Rucksack nimmt im Laufe des Lebens an Größe und Volumen zu. Nach jeder Erfahrung wird der Lebensrucksack geöffnet, neu bepackt und wieder geschlossen. Der Lebensrucksack tut dies selbsttätig, ohne Einfluss von außen.

Päckchen fallen heraus

Wenn der Lebensrucksack mit zunehmendem Lebensalter des Trägers nicht mehr schließt, gehen Päckchen verloren und fallen heraus. Sie liegen hinter oder neben dem, der sie verloren hat. Es kommt zu einer Demenz.

Zunächst werden die abnehmenden kognitiven Fähigkeiten bemerkt. Je mehr Päckchen herausfallen, desto unerträglicher empfindet der Betroffene die Verluste.

Ein Mensch mit einer beginnenden Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung verliert zunächst womöglich seine kurzfristigen Erinnerungen, später seine Erfahrungen, seine Fähigkeiten, sein Wissen. Immer jedoch bleibt er ein Mensch, eine individuelle Persönlichkeit. 

Der offene Lebensrucksack, aus dem Päckchen herausfallen, als Symbol einer Demenz verdeutlicht, dass hier jemand in Not ist. Bis der Defekt des Reißverschlusses überhaupt offensichtlich wird, ist es ein harter Weg für den Betroffenen.

Ständig wird versucht, verloren gegangene Päckchen zu suchen, in den Lebensrucksack zu stopfen und den Reißverschluss zuzuziehen. Häufig wird dem Betroffenen vorgeworfen, er würde selber Päckchen aussortieren, um es dem anderen schwer zu machen.

Selbst wenn die Diagnose Demenz gestellt ist, wird weiter versucht, die verloren gegangenen Päckchen zu suchen, aufzuheben und in den Lebensrucksack zu stecken. Angehörige, Mitmenschen und Pflegende gehen hinter dem Betroffenen her, nehmen die Verluste der Päckchen wahr und versuchen vehement, diese wieder in den Rucksack zu stecken.

Doch genau das geht nicht. Kommt eine vermeintliche Erinnerung wieder zum Vorschein, befindet sich meist noch ein ähn­­liches Päckchen im Lebensrucksack, das Angehörigen oder ­Pflegenden für einen Augenblick suggeriert, dass ein Päckchen wiedergefunden worden sei. Es können aber auch genauso gut versteckte Ressourcen zutage kommen – verschüttete Fähigkeiten und Kompetenzen, die einst in den Tiefen des Rucksacks abgelegt waren.

Blick auf die immer noch vorhandene Fülle

Der Umgang mit einem demenziell Erkrankten, dessen Lebensrucksack offen steht und aus dem weiterhin etwas herausfällt, sollte sich daher so darstellen, dass der Betroffene, sinnbildlich „untergehakt“, also begleitet wird. Dies geschieht immer mit Blick auf die noch vorhandene Fülle im Lebensrucksack.

Schreitet die Krankheit weiter fort, sind viele Päckchen verloren gegangen. Ganz unten am Boden liegt aber noch der Schatz der Kindheit: Musik, Geschichten, Märchen und Gebete. Dies erklärt auch, warum Betroffene, denen einstige Fähigkeiten und womöglich auch die Sprache abhandengekommen sind, plötzlich noch Texte von Kinderliedern formulieren können.

Wer in einen offenstehenden Lebensrucksack blickt, riskiert einen Blick auf die Biografie, auf die innere Landkarte des demenziell Erkrankten. Er blickt auf das, was sein Gegenüber ist. Dieser Blick schärft die Sinne des Betrachters, denn er kann die Dinge, die er sieht, so stehen lassen, wie sie sind. Sie sind so richtig. Unabhängig von Stand und Bildung eines Menschen geht es hierbei immer um das, was noch da ist. An die vorhandenen Möglichkeiten kann angeknüpft werden. Der Umgang mit dem Betroffenen ist nicht verlustorientiert, sondern darauf ausgerichtet, was an Gutem, Individuellem und Besonderem im Lebensrucksack zu finden ist. Das macht es – besonders in ­schwierigen Situationen – leichter, demenzspezifische Einschränkungen zu „ertragen“. Denn der Fokus ist immer auf das Positive gerichtet, zum Beispiel auf den Erhalt und die Förderung von Sprache.

Viele Fortbildungsteilnehmer wünschen sich einen Werk­zeugkoffer im Umgang mit Menschen mit Demenz. Doch den gibt es nicht. Das Krankheitsbild der Demenz mit der Metapher der Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung zu erläutern, erspart nicht das Wissen um die Ursachen, Verläufe und Therapien. Es hilft Betreuungs- und Pflegepersonen aber dabei, eine andere Haltung einzunehmen sowie wertschätzend und empathisch zu denken und zu handeln.

Warum der Reißverschluss nicht mehr funktioniert, ist im Umgang letztlich auch nicht wirklich wichtig.

Diny Juds ist Altenpflegerin und Fortbildungsdozentin in der ambulanten Pflege. 
Silvia Gutowski ist Qualitätsbeauftragte in der ­ambulanten Pflege.

Foto: iStock/kilian14
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