der Kindheit und Jugend.
Dann wird im Laufe des Lebens fleißig gestapelt oder lose gefüllt. Erinnerungen, Erlebtes, Erlerntes, Erfahrungen, Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen und Kompetenzen kommen immer mehr hinzu. Der Rucksack nimmt im Laufe des Lebens an Größe und Volumen zu. Nach jeder Erfahrung wird der Lebensrucksack geöffnet, neu bepackt und wieder geschlossen. Der Lebensrucksack tut dies selbsttätig, ohne Einfluss von außen.
Wenn der Lebensrucksack mit zunehmendem Lebensalter des Trägers nicht mehr schließt, gehen Päckchen verloren und fallen heraus. Sie liegen hinter oder neben dem, der sie verloren hat. Es kommt zu einer Demenz.
Zunächst werden die abnehmenden kognitiven Fähigkeiten bemerkt. Je mehr Päckchen herausfallen, desto unerträglicher empfindet der Betroffene die Verluste.
Ein Mensch mit einer beginnenden Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung verliert zunächst womöglich seine kurzfristigen Erinnerungen, später seine Erfahrungen, seine Fähigkeiten, sein Wissen. Immer jedoch bleibt er ein Mensch, eine individuelle Persönlichkeit.
Der offene Lebensrucksack, aus dem Päckchen herausfallen, als Symbol einer Demenz verdeutlicht, dass hier jemand in Not ist. Bis der Defekt des Reißverschlusses überhaupt offensichtlich wird, ist es ein harter Weg für den Betroffenen.
Ständig wird versucht, verloren gegangene Päckchen zu suchen, in den Lebensrucksack zu stopfen und den Reißverschluss zuzuziehen. Häufig wird dem Betroffenen vorgeworfen, er würde selber Päckchen aussortieren, um es dem anderen schwer zu machen.
Selbst wenn die Diagnose Demenz gestellt ist, wird weiter versucht, die verloren gegangenen Päckchen zu suchen, aufzuheben und in den Lebensrucksack zu stecken. Angehörige, Mitmenschen und Pflegende gehen hinter dem Betroffenen her, nehmen die Verluste der Päckchen wahr und versuchen vehement, diese wieder in den Rucksack zu stecken.
Doch genau das geht nicht. Kommt eine vermeintliche Erinnerung wieder zum Vorschein, befindet sich meist noch ein ähnliches Päckchen im Lebensrucksack, das Angehörigen oder Pflegenden für einen Augenblick suggeriert, dass ein Päckchen wiedergefunden worden sei. Es können aber auch genauso gut versteckte Ressourcen zutage kommen – verschüttete Fähigkeiten und Kompetenzen, die einst in den Tiefen des Rucksacks abgelegt waren.
Der Umgang mit einem demenziell Erkrankten, dessen Lebensrucksack offen steht und aus dem weiterhin etwas herausfällt, sollte sich daher so darstellen, dass der Betroffene, sinnbildlich „untergehakt“, also begleitet wird. Dies geschieht immer mit Blick auf die noch vorhandene Fülle im Lebensrucksack.
Schreitet die Krankheit weiter fort, sind viele Päckchen verloren gegangen. Ganz unten am Boden liegt aber noch der Schatz der Kindheit: Musik, Geschichten, Märchen und Gebete. Dies erklärt auch, warum Betroffene, denen einstige Fähigkeiten und womöglich auch die Sprache abhandengekommen sind, plötzlich noch Texte von Kinderliedern formulieren können.
Wer in einen offenstehenden Lebensrucksack blickt, riskiert einen Blick auf die Biografie, auf die innere Landkarte des demenziell Erkrankten. Er blickt auf das, was sein Gegenüber ist. Dieser Blick schärft die Sinne des Betrachters, denn er kann die Dinge, die er sieht, so stehen lassen, wie sie sind. Sie sind so richtig. Unabhängig von Stand und Bildung eines Menschen geht es hierbei immer um das, was noch da ist. An die vorhandenen Möglichkeiten kann angeknüpft werden. Der Umgang mit dem Betroffenen ist nicht verlustorientiert, sondern darauf ausgerichtet, was an Gutem, Individuellem und Besonderem im Lebensrucksack zu finden ist. Das macht es – besonders in schwierigen Situationen – leichter, demenzspezifische Einschränkungen zu „ertragen“. Denn der Fokus ist immer auf das Positive gerichtet, zum Beispiel auf den Erhalt und die Förderung von Sprache.
Viele Fortbildungsteilnehmer wünschen sich einen Werkzeugkoffer im Umgang mit Menschen mit Demenz. Doch den gibt es nicht. Das Krankheitsbild der Demenz mit der Metapher der Lebensrucksack-Reißverschluss-Erkrankung zu erläutern, erspart nicht das Wissen um die Ursachen, Verläufe und Therapien. Es hilft Betreuungs- und Pflegepersonen aber dabei, eine andere Haltung einzunehmen sowie wertschätzend und empathisch zu denken und zu handeln.
Warum der Reißverschluss nicht mehr funktioniert, ist im Umgang letztlich auch nicht wirklich wichtig.
Diny Juds ist Altenpflegerin und Fortbildungsdozentin in der ambulanten Pflege.
Silvia Gutowski ist Qualitätsbeauftragte in der ambulanten Pflege.